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RhB Ge 6/6 I 401-415



Das offizielle Ablieferungsfoto der Ge 6/6 I 402 von der SLM

Die legendäre Ge 6/6 I – das Krokodil der Rhätischen Bahn

Es ist kaum zu glauben: Nach bald dreissig Jahren Berichterstattung über die Rhätische Bahn und ihre Modelle habe ich es bisher versäumt, der wohl legendärsten Lokomotive im RhB-Fuhrpark einen eigenen Beitrag zu widmen – der Ge 6/6 I, dem „Krokodil“ der Rhätischen Bahn. Ein Versäumnis, das ich nun – wenn auch mit einem kleinen schlechten Gewissen – endlich korrigiere. Denn diese Lokomotive war ein fester Bestandteil meiner Kindheit: Täglich konnte ich sie vom oberen Fenster unseres Hauses Nr. 10 in Surava aus beobachten, wie sie unterhalb des Brienzer Rutschs Richtung Tiefencastel vorbeizog. Ebenso unvergesslich sind die Szenen, wenn sie am Bahnhof Surava ihre Rangieraufgaben für das Militärlager oder das Baustoffwerk Tuff verrichtete – mit ihrem charakteristischen, tiefen Brummen und dem ganz eigenen Rhythmus, den nur eine Ge 6/6 I erzeugen konnte.

Geschichte und Technik

Nach der Elektrifizierung der Albulabahn im Jahr 1919 benötigte die Rhätische Bahn stärkere Lokomotiven als die bisherigen Typen Ge 2/4 und Ge 4/6. 1921 wurden daher sechs Maschinen der neuen Baureihe Ge 6/6 I (Nummern 401–406) bei SLM, BBC und MFO bestellt. Das Pflichtenheft verlangte, dass die Lokomotiven auf 35 ‰ Steigung 200 t und auf 45 ‰ Steigung 150 t mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h befördern konnten – eine beeindruckende Leistung für jene Zeit. Mit diesen Maschinen konnte die RhB den Dampfbetrieb auf ihrem Stammnetz endgültig ablösen – denn Holz und Kohle waren in der Schweiz schon damals ein rares Gut, besonders in den Kriegsjahren. Zwischen 1921 und 1929 wurden insgesamt 15 Exemplare dieser imposanten Elektrolok geliefert (401–415). Fortan bespannten die Krokodile die schweren Schnell- und Güterzüge der RhB, darunter auch den legendären Glacier Express.

Die Lokomotiven waren 13,3 m lang, wogen 66 t und verfügten über eine Nennleistung von 794 kW, was ihnen eine Höchstgeschwindigkeit von 55 km/h ermöglichte. Die Ge 6/6 I war nicht nur optisch eindrucksvoll, sondern auch technisch ein Meisterwerk ihrer Zeit.

Sie war als C’C’-Lokomotive ausgeführt, also mit zwei dreiachsigen Triebdrehgestellen, die durch einen zentralen Gelenkrahmen verbunden waren – ähnlich wie bei den SBB-Krokodilen, allerdings etwas kompakter. Angetrieben wurde jede der sechs Achsen über einen Schrägstangenantrieb mit Blindwelle. Die beiden in den Vorbauten angeordneten Fahrmotoren übertrugen ihre Leistung über Zahnradgetriebe und Treibstangen auf die Blindwelle, von der aus über Kuppelstangen alle Achsen angetrieben wurden. Dieses Prinzip ermöglichte eine gleichmässige Kraftübertragung auch in engen Kurven und war typisch für die schweren Gebirgslokomotiven jener Zeit.

Die Fahrmotoren waren als Tatzlager-Reihenschlussmotoren ausgeführt und konnten zusammen eine Dauerleistung von 794 kW (ca. 1’080 PS) abgeben. Geschaltet wurden sie über einen 17-stufigen elektropneumatischen Stufenschalter, der eine fein abgestufte Leistungsregelung erlaubte. Gesteuert wurde der Schalter über ein Handrad im Führerstand – charakteristisch war das leise Klacken beim Hoch- oder Zurücknehmen der Fahrstufen. Die elektrische Energie wurde über einen Einphasenwechselstrom von 11 kV/16 ⅔ Hz aufgenommen. Zur Stromabnahme dienten zwei Scherenstromabnehmer, ursprünglich mit breitem Bügel, später mit den typischen schmaleren RhB-Bügeln.

Gebremst wurde die Lokomotive durch eine Kombination aus mehrlösiger Druckluftbremse, Vakuumbremse (zur Kompatibilität mit älteren Fahrzeugen) sowie einer elektrischen Widerstandsbremse. Diese elektrische Bremse war bei Talfahrten über den Albula oder die Bernina von grosser Bedeutung und machte die Ge 6/6 I zu einer äusserst sicheren Gebirgslokomotive.

Das Dienstgewicht betrug 66 t, die Reibungsmasse 60 t – damit war eine maximale Anfahrzugkraft von rund 160 kNerreichbar. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 55 km/h, was für den Einsatz auf den kurvenreichen Strecken der RhB völlig ausreichend war. 

Vom Rückgrat zur Legende

Über Jahrzehnte hinweg prägten die Ge 6/6 I das Bild der Rhätischen Bahn. Erst ab 1958 wurden sie allmählich von den neueren Ge 6/6 II 701–707 in die zweite Reihe verdrängt. Mit dem Erscheinen der Ge 4/4 II (ab 1973) beschleunigte sich dieser Prozess. Im Jahr 1984 wurden die ersten sechs Loks ausrangiert. Bereits 1974 musste eine Maschine nach einem Unfall aus dem Verkehr gezogen werden, und 2001 ereilte auch die 411 ein ähnliches Schicksal – sie steht heute im Deutschen Museum München. Die letzte betriebsfähige Phase erlebten die Loks 414 und 415, die bis heute als historische Fahrzeuge in Landquart und Samedan beheimatet sind. Besonders in Erinnerung bleibt die 412, die 2006 zum 75-jährigen Jubiläum des Glacier Express passend zum Alpine Pullman Classic in einem eleganten dunkelblauen Anstrich erschien – bevor sie 2008 nach einem Getriebeschaden ausgeschlachtet wurde. Eine besondere Rolle nimmt auch die 407 ein: Sie steht heute in Bergün vor dem Bahnmuseum Albula und wurde dort mit einem modernen Fahrsimulator ausgestattet – eine kreative Lösung, um Eisenbahnfans den Beruf des Lokführers näherzubringen. Ob dies ein würdiges Dasein für diese Maschine ist, lasse ich offen.

Ikone einer Epoche

Von den insgesamt 15 gebauten Lokomotiven sind heute noch sechs erhalten, zwei davon – 414 und 415 – weiterhin betriebsfähig bei der Rhätischen Bahn.Die übrigen Exemplare stehen in Museen: die 402 im Verkehrshaus Luzern, die 411 im Deutschen Museum München, die 407 in Bergün und die 406 im Eisenbahnmuseum Kerzers. Die Ge 6/6 I trugen nie Namen – sie standen für Kraft, Zuverlässigkeit und ein Stück RhB-Geschichte, das Generationen prägte.Für mich persönlich bleibt das Rhätische Krokodil weit mehr als ein technisches Denkmal – es ist ein Stück Kindheit, Heimat und Eisenbahnromantik, das ich nie vergessen werde.Mit einer gewissen stillen Emotion beobachte ich heute, wie diese Loks noch gelegentlich zu besonderen Anlässen in Dienst stehen – ohne dass ich selbst an jedem dieser Events dabei sein muss.

Technische Daten

  • Antrieb: Schrägstangenprinzip mit Blindwelle, Kuppelstangen auf alle Achsen
  • Fahrmotoren: je Vorbau ein Reihenschlussmotor, Getriebe → Blindwelle
  • Steuerung: elektropneumatischer Stufenschalter (fein abgestuft)
  • Bremsen (Epoche-abhängig): Lok-Druckluftbremse, RhB-Vakuumbremse (Zug), elektrische Widerstandsbremse
  • Leistungsanforderung (Pflichtenheft): 200 t @ 35‰ · 150 t @ 45‰ bei 30 km/h
Achsfolge.                               C’C’   (2 × dreiachsige Triebdrehgestelle)
Länge über Puffer                   13,300mmm
Dienstgewicht                         66 t
Reibungsmasse                       60 t
Nennleistung                          1080 PS / 794 kW
Höchstgeschwindigkeit             55 km/h
Stromsystem                          11 kV · 16 ⅔ Hz, Einphasen-AC
Stromabnahme                       2 × Scherenstromabnehmer
Hersteller                               SLM · BBC · MFO
Lieferjahre                             1921 (401–406), 1922 (407–410), 1925 (411–412), 1929 (413–415)

 

Bestand/Verbleib: 15 gebaut (401–415); 6 erhalten, davon 2 betriebsfähig (historischer Einsatz). 

RhB Ge 6/6 I 414 in Filisur

Foto Gallerie

 

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